Thomas Kipp

Sep 092012
 

145. Reisetag

8845 km

 

Am Morgen zog eine dunkle Wolkenfront auf. Sie setzte sich gegen den blauen Himmel durch. Meine Fahrt über die Ebene begann mit kräftigem Gegenwind. Beim Umrunden einer Halbinsel ist klar, dass nicht immer Rückenwind angesagt war. Damit hatte ich gerechnet.
Die weite Sicht über die Gras- und Sumpfebene beeindruckte mich immer. Die vielen Seen, Tümpel und Wasserlachen mit im Wind biegenden Grashalmen boten Abwechslung in der Monotonie der Ebene.

Beim Blick in die Ferne kamen meine Gedanken ins fließen. Ich stellte mir vor wie schön es zu Hause wäre. Ich würde die Bequemlichkeit genießen. Von St. Johns aus könnte ich bald zurückfliegen. Hinzu kam ein wenig Wehmut und Traurigkeit.

Sobald ich die Küste wieder erreicht hatte (die Straße am Bogen der Halbinsel ging durchs Binnenland) machten sich die Flusstäler bemerkbar. Es ging hinunter und wieder hoch. Nicht ganz so steil wie an der Westküste. Mit Blick über Steilküste und Meer.
Dieser Tag war nicht ein guter Radeltag für mich. Ich wurde bald müde und hatte etwas Kopfweh. Mir war bewusst, dass ich mein Zelt irgendwo aufbauen muss. Es gab keine erreichbare Übernachtungsmöglichkeit auf der Strecke. So suchte ich mir bereits am frühen Nachmittag einen „schönen“ Platz an einem Fluss. Machte einen Mittagsschlaf, kochte mein Abendessen und ging wieder ins Zelt. Kaum war ich im Schlafsack, tröpfelte der erste Regen aufs Zelt. Es regnete die ganze Nacht. Viele Außengeräusche gab es nicht, so konnte ich (fast) ungestört schlafen. Im Zelt wache ich nachts immer mal auf. Die Luftmatraze hat zwar „Matraze“ als Wortteil, die Bequemlichkeit fehlt jedoch.

Am Morgen im Nieselregen das Zelt abgebaut. An gemütlich Frühstücken vor dem Zelt war nicht zu denken. Im nächsten kleinen Ort in 10 km Entfernung an der zentralen örtlichen Versorgungsstelle: Tank- und Poststelle, Laden und Kaffeebar, konnte ich mein Frühstück mit Kaffee und Kekse nachholen.

Beim Beginn der Umrundung der zweiten Halbinsel (siehe Karte vom letzten Blog) müsste ich eigentlich wieder Rückenwind haben. Leider hatte der Wind sich für den Nachmittag um 180 Grad gedreht. Das Fahren wurde mühsamer. Der Regen hörte zum Glück auf. Ein Restaurant war nicht in Sicht. Im einzigen kleinen Supermarkt seit zwei Tagen ergänzte ich meine Lebensmittel. In St. Vincent’s übernachte ich in einer B&B-Pension. Teuer und mit sehr schlechter Matraze. Ich legte alle Decken auf dem Fußboden und schlief dort. Im Reiseführer stand, dass die Küstengewässer sehr tief sind und die Wale nahe ans Land kommen. Leider nur im Frühjahr, wie mir hier mitgeteilt wurde.
Am späten Nachmittag ging ich ans Meer. Der Strand bestand aus feinen schwarzen Steinen, die die hohen Wellen geschliffen hatten. Es stieg ein Nebel auf.

 

Am Morgen ging es bei Sonnenschein und Rückenwind an der Küste entlang. Ich durchfuhr einen geschichtsträchtigen Ort. Hier wurde das erste Notsignal der Titanic empfangen. 1840 ertranken in der Nähe deutsche Siedler. Nachdem sie ihr Hab und Gut in der Heimat verkauft hatten, banden sie sich ihr Gold und Silber als Gürtel um. Ihr Boot geriet in Seenot. Ihr schwerer Gürtel zog sie in die Tiefe. Alles dokumentarisch, sogar mit Namen, festgehalten.

Die Straße ging am Bogen der Halbinsel wieder hoch aufs Plateau. Es war ein ca. 20 km Fahrt mit Rückenwind durch die Weite der Ebene. Trotz einfachen Fahrens kamen die Bequemlichkeitsgedanken wieder auf. Merkwürdig, denn ich genoss das Umfeld. Wollte mein Zelt auf der Ebene aufbauen. Beim Halten umschwärmten mich so viele Fliegen, dass ich es unterließ.

Wieder an der Küste angekommen, war ich voll gefordert. Schöne Sicht und steile Bergstraßen. Übernachtet hatte ich auf dem Rasen hinter einer B&B-Pension. Nichts war frei, denn ich buche nie vor. Die Dusche konnte ich benutzen, Frühstück bekam ich auch.
Die Weiterfahrt am nächsten Tag begann mit Rückenwind und einem ständigen auf und ab. Irgendwie kam ich nie richtig in der Höhe an. Sobald ich oben war ging es runter und wie hoch.

Mein Ziel an diesem Tag war eigentlich in kleines Küstenstädtchen um noch einmal eine Whale-Watching-Tour zu machen. Da nach dem Labor-Day die Nebensaison angefangen hatte gab es die Touren nicht mehr. Die im Info versprochenen vorbeischwimmenden Eisberge in diesem Küstenabschnitt waren längst aufgetaut.
Je näher ich der Hauptstadt kam, desto mehr Autos tauchten auf. Vorher war so gut wie kein Verkehr. Auf belebter Straße fuhr ich in die Stadt hinein zur Jugendherberge. Sie lag günstig in Hafennähe im Zentrum.

 

Sep 052012
 

141. Reisetag

8504 km

 

Die Fähre spuckte mich um 9 Uhr aus. Ich war jetzt auf Neufundland. Die Uhr stellte ich eine halbe Stunde vor. Sebastian, mein zweitägiger Begleiter fuhr direkt nach St. Johns. Ich wollte einen Bogen Richtung Süden zum Cape St. Mary fahren. In Placentia konnte ich noch einmal einkaufen. Es ging in die Einsamkeit. Auf der Karte tauchten einige Namen auf. Häufig gibt es dort nur eine Bucht oder ein paar Häuser.
Der Wind blies günstig aus Nordwest.

Die Landschaft auf der Halbinsel ist geprägt durch ein Plateau in 120-150 m Höhe, mit steil abfallender Küste. Auf meiner Strecke flossen acht Flüsse ins Meer.
Jeder grub mit seinem Bett eine tiefe Furche ins Plateau. Die Küstenstraße ging also achtmal steil auf Meeresniveau herunter und wieder hoch. Die Steigungen waren anstrengend. Oben angekommen kamen die Kräfte schnell zurück. Als Belohnung gab es die Sicht auf die Steilküste. Kaum ein Auto fuhr an mir vorbei. Nach 60 km gab es auf Plateauhöhe einen Campingplatz. Mitten in der Einsamkeit, glücklicherweise mit Restaurant und einer überraschend guten Fish & Chips-Mahlzeit. Dazu ein Bier. Auf Neufundland benötigen die Läden keine spezielle Lizenz für alkoholische Getränke.

Die Sonne ging über Straße und Landschaft unter. Nach eintretender Dunkelheit verzog ich mich bald ins Zelt und kroch mit warmer Hose und Pullover in den Schlafsack. Die Außentemperatur betrug nur noch 10 Grad.

Der nächste Tag begann mit Sonnenschein. Heute wollte ich die Vogelkolonie am äußersten Zipfel der Halbinsel besuchen. Da diese nur 13 km entfernt war schlief ich ein wenig länger und ließ mir Zeit. Die Fahrt dorthin ging über eine Ebene mit Sumpf- und Graslandschaft auf geteerter Straße. Der kärgliche Nadelbaumbewuchs erreichte kaum meine Größe.

Am Ende der Straße führte ein Wanderweg über 1,5 km zum Vogelfelsen. Hier tummelten sich zehntausende Gannet-Vögel (google-translate konnte mir keinen deutschen Namen dafür nennen) auf einem Felsen. Gut zu beobachten von einem nahen Felsvorsprung aus. Das Meer rauschte in 100 m Tiefe.
Vom Familienleben in einer Vogelkolonie bekam ich einiges mit. Wenn ein Vogel startete reckte er lange sein Hals in die Luft, wahrscheinlich um den Wind mit einzuplanen. Landet ein Vogel bei seinem Partner wird erst mal lange und wild geschnäbelt (als hätten sie sich Wochen nicht gesehen). Dann erst bekommen die Jungen ihr Futter. Landet ein Vogel zu dicht bei einem anderen wird gezankt. Manchmal nur mit anfauchen, mal auch mit einem kräftigen Biss in den Nacken. Die Nachbarn schauen interessiert zu. Bei der Vogeldichte ist es gar nicht so einfach einen freien Platz zum Landen zu finden. Jedes Vogelpaar hatte wohl einen bestimmten eigenen Platz.

Lange habe ich auf der Wiese neben dem Felsen gesessen und zugeschaut. Gestört haben die vielen Fliegen, die es hier gab. Nur sechs weitere Menschen kamen und gingen in dieser Zeit.
Das Meer unter mir hatte eine tiefblaue Farbe, die in Türkis wechselte, wenn die Wellen auf die Felsen stürzten. Das Rauschen wurde vom Vogelgeschrei übertönt.

Beim Zurücklaufen spürte ich die Einsamkeit und Weite der Landschaft. Sie lösten Gefühle von Melancholie, unbestimmter Sehnsucht, aber auch ein wenig Schwermut in mir aus.
Ich freute mich hier sein zu können.

Die Rückfahrt war etwas beschwerlicher gegen den Wind. Ich hatte Zeit und kein Gepäck dabei, der Wind störte nicht einmal.
Am Campingplatz aß ich wieder Fish & Chips und begab mich ans Blogschreiben.
Mittlerweile trübte es sich ein. Es steht wohl ein Wetterwechsel bevor.

Eine sachkundige Leserin aus der Agnesstraße berichtete mir, der Gannet ist ein Baßtölpel.

Sep 032012
 

139. Reisetag

8414 km

 

An diesem Tag ist Labour-Day, ein Hauptfeiertag in Kanada. Alle Ferien gehen zu Ende. Die meisten Läden haben geschlossen. Es wird nur noch wenige kanadische Touristen geben.

Der Tag startete gemütlich für mich. Einschecken für die Fähre war um 15 Uhr, Abfahrt um 17 Uhr.
Sie benötigte 14 Stunden um die 450 km nach Newfe-Land wie Neufundland hier heißt zurückzulegen. Es ist eine Eisbrecher-Fähre, gebaut 2002 von den Howaldtswerken in Kiel.
Fuhr zwischen Schottland und Belgien, dann Estonia, Finnland und Deutschland. Seit 2008 ist sie für die Neufundlandroute gechartert. Aufkleber aus dieser Zeit waren noch vorhanden.
Für 10 Jahre sieht sie in meinen Augen bereits ziemlich gebraucht aus. Der Rost nagt.

Hunde und Katzen mussten in die Käfige. Viele Passagiere hatten eine Kabine gebucht, manche übernachteten auf nicht sehr bequemen Liegesitzen.
Ich verbrachte ausgestreckt die Nacht auf einer gepolsterten Bank im Bar- und Aufenthaltsraum. Terrorisiert wurde ich von 2 laut hörbaren unterschiedlichen Fernsehprogrammen – die ganze Nacht. Keiner schaute zu. Leiser oder abzustellen ging nicht. Meine Ohrstöpsel hatte ich leider in meinem Gepäck gelassen. Die Fahrzeuge waren wären der Fahrt nicht zugänglich.
Es gab die üblichen Essens-, Trinken- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Die schwache Internetverbindung ließ mich nicht meinen Blog ins Netz stellen.

Die Fährfahrt bringt mir die zeitliche Endlichkeit meiner Kanadadurchquerung in Erinnerung. Normalerweise ist in St. Johns (der Hauptstadt der Provinz Newfe-Land) so eine Fahrt nach dem Passieren aller kanadischen Provinzen zu Ende. Bisher gab es für mich die Gedanken an das Ende meiner Tour nicht. Da werde ich schon ein wenig wehmütig. Natürlich freue ich mich auch auf zu Hause. Tief in mir schlummern aber noch Fernwehwünsche.

Der Aufenthalt in Neufundland liegt vor mir. Viele Reisende berichteten von einer einzigartigen Landschaft (mit vielen Bergen) und sehr freundlichen Menschen.
Voller Spannung werde ich diesen Abschnitt am Morgen nach der Ankunft der Fähre anpacken.

Sep 022012
 

138. Reisetag 

8408 km 

51.337 Höhenmeter

 

Die Nacht zur Abwechslung mal in einem richtigen Bett verbracht. Auch nicht schlecht. Zumal eine kräftige Regen- und Gewitterfront vorbeizog.

Das „Meer“ gehört noch zum Golf von Sankt Lawrence. Es ist sehr Nährstoffreich und deshalb beliebt bei den Walen. Die beabsichtigte Whale-Watching Tour fiel wegen starkem Wind leider aus. In den nächsten Tagen wohl auch.
So radelte ich weiter auf dem Cabot Trail. Diesmal quer durch das Binnenland zur anderen Inselseite. Rundherum nur Wälder, Täler und Berge. Ich war noch im Nationalpark.
Anfangs flach, aber schon nach wenigen Kilometern ging es steil in die Höhe. Deutlich steiler als am Vortag. Der Wind half mir etwas. Es war trotzdem sehr anstrengend mit all meinem Gepäck in 3,5 km 400 Höhenmeter zurückzulegen. Kurz vor der Passhöhe gab es einen kräftigen Regenschauer.
Damit hatte ich meine steilste Strecke in Kanada, bezogen auf die Länge, hinter mich gebracht. (So hoffte ich.) Deutlich steiler als die Straßen in den Rocky Mountains.
Oben angekommen ging es über eine Ebene mit Busch, Gras und zerzausten Nadel- und Laubbäumen. Hatte gehofft noch einmal Elche zu sehen. Diese trifft man eher früh am Morgen oder abends – das ist nicht meine Reisezeit.
Bald ging es wieder in die Tiefe. Bei der Talfahrt mit Sicht aus Radfahreraugenhöhe wunderte ich mich, dass ich die Bergfahrt überhaupt geschafft hatte. Es ging sehr steil nach unten, fast auf Meereshöhe, über einen Bach. Danach gleich wieder 100 m in die Höhe.

Ich schwächelte an diesem Tag ein wenig. Sofort schlichen sich in die Gedanken die bequemen Vorstellungen: Wie schön ist es zu Hause. Warum machst du die Tour und willst du ewig weiterfahren.

Bereits gegen Mittag suchte ich den Campingplatz auf. Der nächste wäre in 30 km Entfernung gewesen. Noch bevor ich mein Zelt aufbaute hielt ich auf einer Bank einen Mittagsschlaf. Hatte eine wunderbare Sicht über die Küste. Bin jetzt am Atlantischen Ocean.
Am Abend wurde ich von zwei amerikanischen Paaren zum Wein und Unterhaltung eingeladen. Bis der Regnen kam. Verkroch mich ins Zelt. Die Nacht war unruhig mit wenig Schlaf. Ein kleiner Sturm zog über mich dahin. Das Heulen kündigte jeweils die Böe an, die das Zelt auf den Boden drückte. Nur durch meine Einlage flog es nicht weg. Wasserdicht war es und kein Riss in der Zeltwand. Am Morgen stürmte es weiter. In einer kurzen Regenpause konnte ich das Zelt nass einpacken. Gefrühstückt hatte ich trocken in einer Schutzhütte. Auf dem Zeltplatz traf ich einen anderen Radler, der in die gleiche Richtung fuhr. Wir sind zusammen losgefahren und hatten in etwa die gleiche Geschwindigkeit. Der starke Wind stand uns meist zur Seite. Es ging viel über die Berge, mit wundervollem Blick über die Küsten.
Der auf der Karte angegebene Zeltplatz zur Übernachtung war schon vor Jahren geschlossen. Die Touristeninformation wusste davon nichts. Sie hatte uns noch die Kilometerzahl dorthin mitgeteilt Auf dem Gelände bauten wir unser Zelt trotzdem auf. Es war bereits spät und eine einsame Gegend. Nachts heulten die Koyoten (oder Wölfe) den Vollmond an. Die Gänsehaut kam augenblicklich. Ich versicherte mich, mein Bärenspray hatte ich mit ins Zelt genommen. Schlief bald wieder ein.
Zum Morgen hin kroch die Kälte zu mir und ich tiefer in meinen Schlafsack. Den hatte ich in den letzten Zeit nur als Decke verwendet. Der Sommer neigt sich dem Ende zu.

Wegen der Kühle wollten wir im nächsten Ort frühstücken. Die nächste Gelegenheit bot sich erst 30 km später. Wir waren bereits auf einem viel befahrenen Highway. Dieser brachte uns nach Sydney. Dort kaufte ich mir mein Fährticket für die Überfahrt nach Neufundland für den nächsten Tag.